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Flugblatt: Sozialrevolutionäre Realpolitik statt Konkurrenzhetze

CrVP7bWUIAEHp_KDamals, so scheint mir, ist in Deutschland etwas Eigentümliches geschehen: Eine neue, in der Bundesrepublik bis dahin eher untypische Mentalität hat einen großen Sieg errungen. Es wurde ein Begriff in den Köpfen verankert, der zuvor weitgehend unbeachtet war, und zwar das Prinzip der Eigenverantwortung. […] wenn jeder für sich selbst verantwortlich ist, heißt das im Umkehrschluss: Wenn es nicht klappt mit dem neuen Job, dem besseren Gehalt, der festen Stelle, dann ist nicht der Arbeitgeber schuld, sondern – du selbst. Und wer geht mit dem Megafon auf die Straße, wenn er denkt, der Grund für sein Scheitern sei er selbst?“ (Caspar Shaller, „Und ausgerechnet ihr bleibt still!“, DIE ZEIT, 14.09.17)

Die heutige Jugend ist politisch interessiert. Und doch führt die Ideologie der Eigenverantwortung zu einer Hemmung politischer Bewegung. Für Studierende heißt das: Schon wieder nicht alle Credit Points „erworben“? Am Ende des Monats schon wieder in den Miesen? Mal wieder zwischen Job, Referatsvorbereitung, Sport, FSR-Treffen und notorisch verspätetem Elternanruf verloren gegangen? Dafür bist du dann ja wohl eindeutig selbst schuld, sozusagen ganz alleine eigen-verantwortlich!

Zumindest wenn es nach dem ökonomischen und politisch- en Establishment geht. Denn deren neoliberales Projekt von Steuersenkung, Priviatisierung und Sozialstaatsabbau für Reiche soll so abgesichert werden. In Folge von renditegetriebenen hohen Mieten und gekürtztem  BAföG müssen in Hamburg circa 70% der Studis im Schnitt 10 Stunden die Woche lohnarbeiten. Über 40% der Hamburger Studis erklären, die Finanzierung ihres Studiums sei ungesichert. Den dadurch entstehenden Stress sollen wir dann durch „Selbstmanagement“ individuell ausgleichen. So verspricht bspw. ein Kurs im Workshop- und Coachingprogramm der Studien- und Psychologischen Beratung der Uni Hamburg: „Weniger aufschieben – mehr erledigen“. Statt uns die herrschenderseits produzierte soziale Spaltung selbst als „Motivationsproblem“ anzulasten, geht es ums Ganze!

Der gesellschaftlich erarbeitete Reichtum in privaten Händen ist derart immens, dass wir bspw. allein von 20% des Vermögens der Familie Otto in Hamburg allen 41.000 Studierenden der Universität Hamburg fünf Jahre lang ein Studienhonorar in Höhe von 1050 € pro Monat bezahlen können. Das Studienhonorar für alle zur Unterstützung eines Studiums für die Lösungssuche zu gesellschaftlichen Problemen ist notwendig und richtig. Die Perspektive der Verbesserung ist die radikale Umverteilung von oben nach unten. Studium und Wissenschaft richten wir auf die Durchsetzung dieser sozialrevolutionären Reformen.  So ist Wissenschaft „Moment der Selbstbefreiung des Menschen von unbegriffenen Mächten, das heißt Aufklärung aus dem wissenschaftlichen Studium heraus. Und als Wissenschaftler haben wir die Aufgabe, diesen Prozeß der Selbstbefreiung des Menschen von den unbegriffenen Mächten zu forcieren und uns nicht zu Objekten anderer Mächte der Gesellschaft zu machen.“ (Rudi Dutschke, Podiumsdiskussion in Hamburg, 24. November 1967)

Legen wir mit diesem Wissenschaftsverständnis los, es hilft  nichts, auf bessere (soziale) Zeiten  zu warten, die Möglichkeiten der Umwälzung sind da (u. a. Familie Otto), wir müssen sie im Konflikt durchsetzen. Dafür muss der Unzufriedenheit über den Stress im Alltag, über den sinnlosen Klausurenmarathon und über sozial-instrumentellen Druck für die Motivation der Veränderung (mehr) Bedeutung gegeben werden. Die Unzufriedenheit muss raus aus dem Privaten und politisch rein ins Öffentliche!

Sozialrevolutionäre Realpolitik bedeutet in diesem Sinne, mit der Perspektive einer sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft Reformen durchzusetzen: Ausbau des Studierendenwerks, Studienhonorar/BAföG für alle und Realisierung der Grundrechte durch öffentliche Daseinsvorsorge mit bedarfsgemäßer Finanzierung. Die Einheit des Engagements für bessere soziale Bedingungen mit der Veränderung der Studienpraxis durch solidarische Organisation ist „das Zusammen- fallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit der Selbstveränderung […] als revolutionäre Praxis“ (Marx: Thesen über Feuerbach, 1845).

Denn es kommt darauf an, die Welt zu verändern!